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18. Tag der Grünen Band Tour: Im Lande der Nandus und Maränen

Highlights:

  • Gedenkstätte Michael Gartenschläger
  • Schaalsee
  • Das Hotel „Seehof“ am Küchensee

Räkel, räkel, ist das so etwas wie Muskelkater, das erste Mal nach 2 ½ Wochen? Ich habe das Gefühl, jeder einzelne Muskel meldet sich heute früh. Da hilft nur: Aufstehen (leider) und Duschen (schon besser) mit einem anschließenden, ausgiebigen Frühstück (ganz besonders gut!). Unter der Dusche wird mir klar, dass meine Tour bald zu Ende geht – mit Barbara ist heute der letzte gemeinsame Tag auf der Radtour. Heute Abend ein letztes Mal übernachten und dann zu meiner Frau an unseren Treffpunkt auf dem Priwall radeln: Wehmut, Freude, Stolz, Begegnungen Revue passieren lassen – von allem etwas.  Der nächste Schritt ist jedoch die Etappe von Langenlehsten nach Ratzeburg – heute Abend kann ich weiter über den Sinn (wenn es denn einen gibt) der Radtour nachdenken.

Der Aufbruch zog sich gewaltig in die Länge, weil wir endlos frühstückten, viel quatschten und uns erst die Sonne wärmen musste, ehe wir die normale Betriebstemperatur erreichten – auch Bienen oder Hummeln z.B. benötigen als Wechselblüter ein paar Sonnenstrahlen, sonst können sie überhaupt nicht abheben.

Dann war wirklich alles gesagt und alles gepackt, Bussi hier, Umarmung dort. Wir sind zunächst entgegensetzt zur eigentlichen Route zum Ort, an dem Michael Gartenschläger erschossen wurde, gefahren. Der ist nur fünf Kilometer von Langenlehsten entfernt. Von der Landstraße her biegt man auf einen versteckten Waldweg ab und kommt nach 500 Metern an die von alten Bäumen umgebene Gedenkstätte für Gartenschläger.

Michael Gartenschläger – Politaktivist und Abenteurer

Wer war Michael Gartenschläger? Da gehen die Meinungen auseinander: Held, (Flucht)Helfer, Hasardeur, Narzisst, Abenteurer. Die Fakten sehen so aus: im vorletzten Kriegsjahr geboren, 1961 nach Protesten gegen die DDR in einem unrechtsstaatlichen Verfahren zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt, 1971 von der BRD freigekauft, Tankstellenpächter in Hamburg. Politisch – oder eher praktisch – weiterhin aktiv, indem er vielen Menschen direkt und indirekt zur Flucht aus der DDR geholfen hatte. Dabei wurde er erneut in Rumänien und Jugoslawien verhaftet und für kurze Zeit ins Gefängnis gesteckt. 1976 baute er einige der tödlichen Selbstschussanlagen SM70 ab und verkaufte sie dem Spiegel. In der Nacht zum 1. Mai 1976 wollte er die dritte SM70 in der Nähe von Langenlehsten demontieren. Er war mit zwei Bekannten hingefahren, aber nur er alleine stieg über den Grenzzaun. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) war seit der ersten Aktion Ende März 1976 nicht untätig geblieben, da der Einsatz dieser meist tödlichen Selbstschussanlagen im Ausland als menschenverachtend kritisiert wurde und die Apparate selbst als Todesmaschinen bezeichnet wurden. Kurzum: der Staat konnte das nicht auf sich sitzen lassen, dass Gartenschläger ihre geheimen Grenz-Anlagen abmontiert und die schreckliche Wirkungsweise für eine große Öffentlichkeit sichtbar macht. Eine Sondereinheit des MfS patrouillierte seit Mitte April an dieser Stelle und Gartenschläger stolperte in die Falle. Man geht außerdem davon aus, dass in Gartenschlägers Freundeskreis mindestens ein Informant für das MfS tätig war. Bei einem Schusswechsel zwischen Gartenschläger und den MfSlern wurde er tödlich getroffen. Später verbrannte man ihn als „unbekannte Wasserleiche“. Die Bestattung geschah anonym in Schwerin.

Grünes Band Michael Gartenschläger
Gedenkstätte für Michael Gartenschläger – bei Langenlehsten
Grünes Band Michael Gartenschläger
Das Kreuz erinnert an seinen Todestag / 30. April 1976
Grünes Band Michael Gartenschläger
Gedenkstein für Michael Gartenschläger
Grünes Band Kolonnenweg Langenlehsten
Die Idylle trügt – nach 3 Kilometern…
Grünes Band Kolonnenweg Langenlehsten
Immerhin kann ich sie für eine weiteres GB-Bild nutzen

Die auf DDR-Seite beteiligten Soldaten und Offiziere wurden entweder freigesprochen (weil Annahme einer Notwehrlage, da Gartenschläger zuerst geschossen haben soll) bzw. die Verfahren wegen Verjährung eingestellt, obwohl der Einsatzbefehl unverhohlen von der beabsichtigten Tötung gesprochen hatte. Ich erlaube mir kein Urteil über Michael Gartenschläger oder seine Motive. Als Beschreibung seiner Persönlichkeit fällt mir ein: tragisch, getrieben, mutig und naiv.  Nach seinem Tod wurde er zu einer Ikone der antikommunistischen Bewegung in Westdeutschland und die DDR hatte genau das Gegenteil erreicht, nämlich erhöhte Aufmerksamkeit. Es sollte noch bis 1983 dauern, als die DDR-Führung beschloss, alle SM70 abzubauen. Der internationale Druck und die gleichzeitige Beteiligung an UN-Abkommen zum Verbot von Land- und Splitterminen ließen dem Politbüro keine andere Wahl.

Heute erinnern eine Gedenkstätte und ein großes Stahl-Kreuz an seinen Tod – die Grenzlinie mit dem markanten 90°-Knick ist nur noch als breite, mit Erika bewachsene Schneise erkennbar. Wir mussten uns zweimal schütteln. Auch wenn sein Tod und diese dramatischen Ereignisse jetzt über 40 Jahre zurückliegen, ging uns seine Geschichte unter die Haut.

Der Kolonnenweg endet diesmal  – im Nirwana

Jetzt lag dieser Grenzweg (ohne die fiesen Betonplatten) einladend vor uns und wir fuhren im zweiten Anlauf in die richtige Richtung los. An dieser Stelle konnten wir erleben, dass die Forderung nach dem „Lückenschluss“ des Grünen Bands gut ist. Eigentlich hätte alles passen müssen: klarer Grenzverlauf, erkennbare Schneise der früheren Todeszone, eine plattgetretene, plattgefahrene Strecke. Aber nach drei Kilometern endete unsere Fahrt. Der Weg verlief sich im Unterholz, die Streckenführung war nicht mehr erkennbar. Ohne Karte mit entsprechendem Maßstab oder die famose Komoot-App stünden wir vermutlich immer noch an dieser Stelle. Auf dem Handy konnten wir fast jeden Strauch erkennen und damit auch einen Weg finden, der uns die Fahrräder durchs Unterholz schiebend auf die Fahrstraße nach Langenlehsten zurückbrachte.

Kein Grünes Band sondern die Autobahn A24
A24 bei Langenlehsten
Grünes band Zarrentin
Auf dem Weg zum Schaalsee

Der Strecke führte uns erneut durch die „Plantagen-Wälder“ über die A24 bis nach Zarrentin am Schaalsee. Der See liegt in einem Biosphärenreservat und ist ein wunderbares Naherholungsgebiet (nicht nur für die Hamburger). 2019 wurde er vom Global Nature Fund als „lebendiger See“ ausgezeichnet. Dieses Label bekommen Gewässer, die sich für Nachhaltigkeit, Artenvielfalt und Erhalt des Ökosystems einsetzen.

Das Örtchen Zarrentin am Schaalsee

Am Schaalsee zeigt sich, dass die durch die frühere Grenzsituation abgeschiedene Lage zumindest einer ungestörten Entwicklung der Natur zugute kommt – und riesige Kreuzfahrtschiffe noch nicht bis Zarrentin vorgestoßen sind. Wir haben unsere obligatorische Kaffee- und Kuchenpause in der Nähe des ehemaligen Nonnen-Klosters der Zisterzienser eingelegt. Der Name „Himmelspforte“ drückt sicherlich treffend aus, was die Gründer des Klosters im Sinn hatten. Anfang der 2000er Jahre wurde das Kloster aufwändig saniert. Wegen des sonnigen Sonntags schoben sich ganze Busladungen voller Menschen durch das Kloster – wir wollten uns diesem Treiben nicht anschließen, sondern bewunderten nur von außen die beeindruckende Gestalt des Klosters. Zarrentin bietet noch andere touristische Attraktionen wie das Pahlhuus oder das Grenzhus Schlagsdorf. Das Pahlhuus ist gleichzeitig das Info-Center des Biosphärenreservats Schaalsee; dort gibt es Informationen rund um die Arbeit des Biosphärenreservats. In Schlagsdorf wartet das regionale Grenzmuseum auf die Besucher. Hier wird nicht nur das „Gestern“ in den Vordergrund gestellt, sondern der besondere Blick gilt dem „Heute“ in Ost und West. Ich war nicht dort und kenne daher nur die Infos von der Webseite.

Grünes band Schaalsee
Schönes Panorama vom Schaalsee
Grünes Band Schaalsee Klosterkirche
Die Klosterkirche vom Zistersienser Kloster

Anschließend sind wir auf einem der vielen Radwege am Seeufer entlang nach Norden geradelt. Immer wieder konnte man einen flüchtigen Blick auf den See erhaschen, die direkte Uferlinie ist nur in seltenen Fällen erreichbar. Das unterstreicht den Reiz dieses noch unberührteren Gewässers. Auch für die Wasserqualität mit seinem Fischreichtum macht es sich bezahlt, denn es gibt immer noch (oder wieder) viele Berufsfischer – sowohl auf der Ost- wie Westseite, die gerne auf Maränenjagd gehen. Das ist eine Fischspezialität, die in vielen Restaurants auf der Speisekarte steht.

Grünes Band Schaalsee Strandbad Zarrentin
Strandbad Zarrentin
Grünes Band Schaalsee
Die Brücke über die Schaale – einer der Zuflüsse in den See
Grünes Band Schaalsee
Wirkliche Idylle: die Schaale

Die Nandu-Population am Schaalsee

Ich hatte meiner Begleiterin schon den ganzen Tag etwas über die Nandus erzählt, die hier angeblich in Scharen leben. Das erste Mal las ich etwas dazu in Andreas Kielings Reisebuch. Er war mit seiner Hündin den brütenden Vögeln zu nahe gekommen, die vehement den vermeintlichen Angreifer vertreiben wollten. Sein Bild dazu ist ein preisverdächtiger Schnappschuss: Cleo, Kielings Hündin nimmt Reißaus,  während ein Hahn sie wütend verfolgt. Aus seiner Erzählung spricht auch nach –zig Jahren die echte Angst, denn Nandu-Hähne sind beim Brüten sehr aggressiv und flink, was Kielings Hündin Cleo überraschend zu spüren bekam.

Am Umgang mit diesen „fremden“ Vögeln kann man wunderbar den Clash zwischen deutscher Verwaltungsmentalität, dem Naturschutz und den Bedürfnissen der Landwirte beobachten. Die Nandus sind nicht aus ihrer Heimat in Südamerika fliegend an den Schaalsee gekommen – sind nämlich Laufvögel, eine Unterart aus der Straußenfamilie. Ende der 90er konnten einige von ihnen aus dem Gehege eines Züchters in Norddeutschland entfleuchen und vermehren sich seit dieser Zeit prächtig. Aus den ursprünglich acht Vögeln ist eine propere Population von über 500 Tieren geworden. Die wollen satt werden und fressen deshalb gerne den Bauern Mais, Raps oder Weizen weg. Obwohl die Nandus ausgewiesener Maßen keine „Biodeutschen“ sind, gelten sie inzwischen als heimische Art, die unter besonderem Schutz des Bundesnaturschutzgesetzes stehen, mithin gibt es keine allgemeine Jagderlaubnis wie z.B. bei Wildschweinen oder Rotwild. In Südamerika stehen den Nandus nicht auf der Liste der bedrohten Tierarten. Vielleicht haben deshalb auch 2019 zwei Bauern zum ersten Mal eine Sondergenehmigung erhalten, um bis zu 70 Vögel abzuschießen. Ob das hilft? Angeblich wurden in diesem Jahr bereits 300 Jungvögel gesichtet. Die Deutsche Jagdzeitung (mein Lieblingsorgan für Naturschutz und Nachhaltigkeit) titelt in diesem Zusammenhang jedenfalls ganz launig: Den Nandus geht’s jetzt an die Eier…

Und wir haben an diesem Nachmittag sogar zwei Vögel gesehen, leider zu weit entfernt, um sie fotografisch festzuhalten. In der Nähe vom Örtchen Hütte gibt es auf einer Anhöhe einen naturkundlichen Beobachtungsturm. Von ihm kann man über die Felder bis zum See schauen. Weit, weit entfernt stolzierten zwei Vögel über die Wiese und verschwanden im Wald. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt – wir wurden nicht angegriffen…

Grünes Band nandus
Kritischer Blick: Wo sind die Nandus?
grünes Band beim Dörfchen Hütte
Hinten am Waldrand haben wir zwei Vögel erblickt

Schließlich passierten wir den lauschigen Goldensee und bogen kurz darauf auf den Fahrradweg an der B208 ein. Die letzten Kilometer bis Ratzeburg waren im besten Falle langweilig – nervig allemal, denn der Sonntagsverkehr am Nachmittag machte sich laut dröhnend und stinkend bemerkbar. Dann kam das Ortsschild Ratzeburg und wir trödelten langsam bis zum meinem Hotel am Küchensee.

Grünes Band Goldensee
Der Goldensee macht seinem Namen alle Ehre
Grünes band Goldensee
Sie träumte immer noch vom Schwimmen
Ratzeburg
Ratzeburg erreicht – die letzte Übernachtung steht an

Der Küchensee in Ratzeburg

Der „Seehof“ liegt – wenn man sich noch die starkbefahrene Straße wegdenken würde – genial auf dem schmalen Verbindungstück zwischen dem Küchensee und dem Ratzeburger See. Mein Zimmer ging auf den Küchensee hinaus, zwischen Hotel und See befindet sich nur eine kleine Liegewiese für die Hotelgäste – sehr idyllisch! Am nächsten Morgen trainierten extra für mich zwei Achter-Ruderboote direkt vorm Haus auf der Regatta-Strecke. Der See ist nämlich das Revier des Ratzeburger Ruderclubs, der u.a. durch den legendären „Deutschland-Achter“ berühmt wurde.

Bevor Barbara wieder in den Zug nach Berlin steigen musste, nutzten wir die Seeterrasse für einen letzten gemeinsamen Kaffee. Wir schauten dem sonntäglichen Treiben auf dem See zu und sprachen über unsere Erlebnisse und neuen Entdeckungen während der drei Tage. Der Abschied fiel auf einmal kurz (und schmerzlos sowieso) aus, weil wir übers Plaudern die Zeit vergessen hatten, vor allem die Abfahrtszeit für ihren Zug.

Ratzeburg Küchensee Hotel Seehof
Der hoteleigene Steg am Küchensee
Hotel Seehof Ratzeburg Küchensee
Die Seeterrasse am Küchensee
Küchensee Hotel Seehof
Da wird morgen früh mein Einstieg in den See sein

Ich hatte später den Abend für mich und mir ging meine morgendliche Frage über den Sinn dieser Tour durch den Kopf: fast 1.300 Km geradelt, Arm, Ellenbogen und Bein lädiert, (meistens) interessante Menschen getroffen, etwas über die Befindlichkeit der Menschen zum Thema „Zusammenwachsen“ der beiden Deutsch-Länder erfahren, viel Natur gesehen, überhaupt viele Dinge gesehen, erlebt, zu denen ich mit Auto nie gekommen wäre, Abstand zum Berufsleben gewonnen – drei tolle Wochen gehabt!

Hotel Seehof
Denken machen – immer gut mit einer Tasse Tee
Hotel Seehof Ratzeburg
Saunavergnügen im Hotel Seehof

Wenn man in einem noblen Hotel ist, soll man sich auch entsprechend verwöhnen lassen. Die hoteleigene Sauna war nur für mich angeheizt, alles sehr großzügig und mit einem Zugang auf eine kleine Außenterrasse. Ein, zwei Saunagänge sind aus meiner Sicht eine der besten Arten zum Abschalten – ich hätte mich danach sofort ins Bett legen und vermutlich bis zum Morgen schlafen können. Doch dann knurrte mir der Magen und ich genoss das Abendessen mit dem Blick aufs Wasser – und hatte Zeit fürs Nachdenken und Formulieren des heutigen Beitrags.

Überraschend früh für meine Verhältnisse ging ich ins Bett und schlief bis Montagfrüh durch.

 

 

Veröffentlicht in Allgemein

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