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Radweg Deutsche Einheit – Etappe 5: Oberaula bis Guxhagen

70 Km – 🡭 620 m – 🡮 780 m

Highlights auf der Strecke

  • Knüllwald: Auf und Ab
  • Radler-Seilbahn in Binsförth
  • Kloster Breitenau

Übernachtung: Haus Tri-Elfs, Guxhagen (2: großes Apartment, freundliche Wirtin, leider kein Frühstück)

Heute habe ich die offizielle Route des Radweges verlassen und mich durch die Höhen und Tiefen des Knüllwalds bis ins Fuldatal hinab … gequält, das wäre zu viel gesagt, vielleicht ein wenig mehr als sonst angestrengt. Die Fahrt ging nur ausnahmsweise über Rad- und andere Wirtschaftswege, insofern waren einige Kilometer Landstraße dabei.

Jüdischer Friedhof und der Anspruch auf „Ostgebiete“

Noch in Oberaula besuchte ich den alten jüdischen Friedhof; die Mitglieder der jüdischen Gemeinde wurden 1933 entweder gleich verhaftet oder konnten noch rechtzeitig ins Exil gehen. Ich hätte ihn nicht gefunden, wenn ich nicht durch Zufall auf Google Maps einen Hinweis gesehen hätte; von außen ist er nämlich nur mit Mühe zu erkennen.

Ehemaliger jüdischer Friedhof
Muss man die Erinnerung an die deutschen Ostgebiete wachhalten? Muss man nicht!

Meine Wirtsfamilie erzählte noch etwas zur Geschichte des Friedhofs, nachdem die Gemeinde vor 25 Jahre begonnen hatte, den Friedhof zu erhalten. Etwas weiter sah ich den „normalen“ Gemeindefriedhof und war doch erstaunt, dass die Oberaulaner noch heftig an ewiggestrigen Vorstellungen festhalten. Mit dem religiösen Beiwerk wird sozusagen ein metaphysischer Anspruch auf die Ostgebiete des alten Deutschen Reiches postuliert – sehr interessant.

Und dann ging es etliche Kilometer steil bergauf, immer mal wieder ein Stückchen runter, um kurze Zeit später erneut steil anzusteigen. Soll ich klagen? Nein, denn ich hatte es mir selber ausgesucht, weil ich ja ne Abkürzung wollte. Bis auf das kleine Örtchen Wallenstein ist mir nicht viel in Erinnerung geblieben.

Wallenstein: Zentrum der Neonazis?

Wallenstein hat eine Burg(ruine), die vermutlich im 12. oder 13. Jahrhundert errichtet. Heute stehen die Reste etwas erhöht über einem Naturschwimmbad. Der Name Wallenstein hat übrigens nichts mit dem „Wallenstein“ aus dem dreißigjährigen Krieg zu tun.

Burgruine Wallenstein 

Diese schillernde Figur des Feldherrn Wallenstein stammte aus Böhmen und war Oberbefehlshaber der Kaiserlichen Armee – allerdings fiel er später in Ungnade und wurde von irischen und schottischen Offizieren im Auftrag des Kaisers im Februar 1634 ermordet. Doch das Örtchen Wallenstein beheimatet einen üblen, braunen Gesellen, Meinolf Schönborn. Er ist seit Jahrzehnten in der neonazistischen Szene sehr aktiv und gibt das neofaschistische Magazin „Recht und Wahrheit“ heraus. Das ist wahrlich kein Grund, lange in Wallenstein zu verweilen – im gesamten Schwalm-Eder-Kreis haben sich in den letzten Jahren Neonazis festgesetzt, die zT ganz harmlos daherkommen, aber immer wieder wegen Kameradschaftstreffen oder nazimäßig angehauchter Sonnenwendfeiern im Fokus von Justiz und Verfassungsschutz stehen.

Der Knüllwald und die Kanonenbahn

Lieber dann weiter mit dem Auf und Ab des Knüllwald. Mitten durch dieses Gebiet führt die sogenannte Kanonenbahn. Man sieht heute noch etliche alte Brücken oder den teilweise zugewuchterten Bahndamm, der nicht auf Wander- oder Radweg genutzt werden kann.

Es fährt ein Zug nach Nirgendwo: Kanonenbahn im Knüllwald

Die Kanonenbahnstrecke geht auf das Militär des Deutschen Kaiserreichs zurück. Die Strecke mit einer Gesamtlänge von 805 Km verband Berlin mit Metz, was nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zu Deutschland geschlagen wurde. Somit wurde das Reichsgebiet recht effizient durch eine Bahnstrecke, hauptsächlich aus militärischen Gründen, erschlossen. Daher stammt auch der Name „Kanonenbahn“. Durch die Entwicklung des Bahnverkehrs – sowohl in positiver wie auch negativer Richtung – werden nicht mehr alle Abschnitte der Kanonenbahn befahren. Im Gegensatz zum Rotkäppchen-Radweg ist auf der alten Bahnstrecke kein Durchkommen denkbar. Im hessisch-thüringischen Grenzgebiet gibt es allerdings eine kurze Radstrecke auf der Kanonenbahnstrecke – dieser zieht sich von Dingelstädt bis Frieda über 30 Km entlang

Die Rad-Seilbahn in Binsförth

Schließlich hatte mich ein Flusstal wieder, nämlich das Tal der Fulda. Da fährt es sich auf einem ebenerdigen Radweg natürlich  viel eleganter und man kann wirklich gut „Strecke machen“.

Zurück auf dem Radweg der Deutschen Einheit

Bevor ich aber dann richtig durchstartete, wollte ich die einmalige Fahrradseilbahn bei Binsförth ausprobieren. Man kurbelt sich aus eigener Muskelkraft in einem kleinen Gitterkäfig an Trag- und Führungsseilen hängend über den Fluss. Großer Fun, der ganz schön in die Arme geht, vor allem da ich gar nicht über die Fulda gemusst hätte – es geschah nur aus Foto-Gründen.

Wer es nicht in den Beinen hat, muss es in den Armen haben (I/II)
Wer es nicht in den Beinen hat, muss es in den Armen haben (II/II)

Die Seilbahn ist zwar hübsch gemacht, doch erstens ist das Kurbeln sehr anstrengend und zweitens stellt die Verbindung auf dem beliebten Fuldaradweg ein lästiges Nadelöhr dar. Seit Jahren fordert u.a. der ADFC, dass hier eine kleine Brücke errichtet werden soll, die Alternativroute führt nämlich über eine vielbefahrene Bundesstraße. Nachdem ich den Käfig für ein paar Fake-Fotos ungefähr ein Drittel auf den Fluss gekurbelt hatte und ein paar Radfahrer auf den anderen Seite schon ungeduldig warteten, waren sie etwas angefressen, weil ich dann überraschend umdrehte. Ich musste ja nicht wirklich die Seilbahn benutzen, sondern hatte nur ein paar möglichst authentische Bilder machen wollen.

Jetzt aber los und in die Pedale treten: first we take Melsungen and then Guxhagen… – ein wenig abgewandelt von Leonard Cohens Song. In Melsungen wartete eine kleines Eiscafé mit vielen Wespen auf mich sowie eine pittoreske Innenstadt mit restaurierten Fachwerkhäusern; der Marktplatz von Melsungen besitzt ein sehr ansehnliches Ensemble an stattlichen Häusern aus dem Mittelalter. Sehr bekannt ist das große Rathausgebäude mit rot lackiertem Fachwerk.

Rathaus in Melsungen

Kloster Breitenau: 100 Jahre autoritäre Erziehung, Ausgrenzung und massenhafter Tod

Als letztes Ziel auf meinem Tagesprogramm stand das frühere Kloster Breitenau in Guxhagen, allerdings nicht zur geistigen Einkehr, sondern um das ehemalige „Arbeitslager“ und das heutige Museum zu besichtigen. Insofern passt der Name meines Radwegs zur Deutschen Einheit bzw zur deutschen Geschichte wieder einmal exakt: vom Neonazi Schönborn bis zum Gestapo-Lager im ehemaligen Kloster Breitenau findet sich alles auf der Etappe. Der junge Praktikant Bruno zeigte mir die Ausstellung und erklärte weitere Einzelheiten, die die Geschichte des Lagers sehr plastisch darstellte. Im Kern kann man sagen, dass die Anstalt von 1870 für rund 100 Jahre ein Gefängnis und eine Besserungsanstalt für „Schwererziehbare“, „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ darstellte. Zusätzlich kamen in den ersten Jahren des NS-Staates noch tausende von Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschaftlern und jüdischen Männern hinzu.

Ehemaliges Kloster Breitenau
Strenge Maskenpflicht im Museum
Dauerausstellung über das Arbeitslager
Einige Schicksale während der Zeit des Arbeitslagers

Genauso unrühmlich endete die Geschichte des „Mädchenlagers“, auch nach einem Bericht der Journalistin Ulrike Meinhof, der späteren RAF-Terroristin. Sie zeigte in einem Beitrag für den HR, dass angeblich schwererziehbare Mädchen und junge Frauen schwere körperliche Arbeit im Akkord verrichten mussten – autoritärer Erziehungsstil und keine schulische Förderung gab es kostenlos dazu. Im Jahre 1973 wurden die Proteste so laut, dass der Träger die Einrichtung schließen musste. 10 Jahre später gab es Forschungsarbeiten zur neueren Geschichte des Klosters – heute sind hier Wohngruppen für Menschen mit psychischen Störungen eingerichtet.

Und damit endet der Tag im Haus Tri-Elfs – nicht in dem kleinen Zimmer, was mir vor mehreren Wochen „angedroht“ worden war, sondern in einem fürstlichen Apartment von der Größe der Präsidentensuite im Hotel Adlon (um das mal wieder zu bemühen). Das war ein schönes Ambiente, um den langen Tag ausklingen zu lassen.

Hier geht es mit der sechsten Etappe weiter.

Veröffentlicht in Allgemein

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