Highlights:
- Ring der Erinnerung
- Grenzmuseum Sorge
- Harzer Bachtäler
- Brockengipfel
- Kaputter Wald unterhalb des Brockengipfels
- Rangerstation NP Harz in Schierke
Heute geht es auf den Brocken – ich möchte meinen Sehnsuchtsberg bezwingen. Der Gipfel liegt auf 1.141 m über NHN und ist damit einer der höchsten Berge der deutschen Mittelgebirge.
Wenn man sich vom Eichsfeld her nähert, kann man den Gipfel mit den charakteristischen Türmen schon von weitem sehen. Am Vortag war mir schönes Wetter und klare Sicht vergönnt, so dass ich auch für heute auf gutes Wetter und gute Sicht hoffte.
Gestartet bin ich in Sülzhayn (mit 340m NHN), vom ehemaligen Privatsanatorium Dr. Stein, welches nach dem Krieg von den „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) als Lazarett für ehemalige KZ-Häftlinge genutzt wurde. Inzwischen gehört das Haus einem holländischen Reiseveranstalter, der es in ein Hotel verwandelt hat und es als Villa Südharz anbietet – wahrscheinlich würden die Gäste am liebsten noch mit Gulden zahlen, da unsere holländischen Nachbarn eindeutig in der Mehrzahl waren. Die Unterkunft liegt idyllisch, fernab von jedem Trubel, von jedem WLAN, von jeder schnellen Internetverbindung, selbst von einer funktionierenden Mobilfunk-Verbindung, also Ruhe und Erholung pur! Sülzhayn selbst hat die besten Zeiten leider hinter sich. Angeblich waren dort in den 50er Jahren mehr Kur- und Feriengäste als in Garmisch-Partenkirchen. Jedenfalls hatten sich schon seit 1920 viele Sanatorien für Atemwegserkrankungen in Sülzhayn etabliert, denen der Garaus durch die Zonenrandlage gemacht worden war. Immerhin wurde gerade die Dorfstraße großräumig aufgerissen, um das „schnelle Internet“ ins Städtchen zu bringen – was durchaus sinnvoll ist (siehe oben).
Der Morgen war sehhhhhhr frisch und ich war froh, an meine wollene Radunterwäsche gedacht – und angezogen zu haben. Von den sexy Beinlingen und Armlingen ganz zu schweigen. Über die hohen Bäume lugte langsam die Sonne, die zumindest ab Mittag wieder ein wenig wärmte. Die Brockenetappe sollte eigentlich kurz sein, gerade mal 65Km, auch wenn es auf über 1.100m über NHN hoch gehen würde, wäre das kein allzu großes Ding. Manchmal gibt es ja den Fall von „Denkste“ im Leben – so ein Tag war heute – oder sollte es heute werden.
Ring der Erinnerung und Grenzmuseum Sorge
Ich kletterte von Biegung zu Biegung immer höher und hatte bald schon 600m über NHN erreicht. Zwischendurch konnte ich immer wieder einen Blick auf den Brocken erhaschen und dachte im Stillen bei mir: So schlimm wird das ja nicht… Die Komoot App zeigte mir den Weg und alles deutete auf einen schönen Aufstieg auf passablen Waldwegen hin. Ein Teil der Gesamtstrecke führt parallel zum Harzer Grenzweg, der sich ebenfalls an der alten Grenzziehung orientiert. Zwischen Hohegeiss und Sorge macht der Weg auf einmal einen nicht zu übersehenden 90°-Knick. Dort stößt man auf den „Ring der Erinnerung“. Für dieses Naturdenkmal hat der Landschaftskünstler Hermann Prigann 1993 einen kreisförmigen Wall aus aufgeschichteten Totholzstämmen erschaffen. Der Ring mit einem Durchmesser von 70 Metern liegt direkt auf dem ehemaligen Todesstreifen, die frühere Grenze führt mitten hindurch. Im Inneren des Kreises ragen fünf Säulen des alten Grenzzaunes mahnend aus dem Boden hervor. Ähnlich wie beim West-Östlichen Tor stehen Vergängnis und Werden in einem direkten Zusammenhang, denn das Totholz wird zur Lebensgrundlage von neuem Leben. Unpassend fand ich den Picknickplatz im Zentrums des Kunstwerks. Ich warte noch gespannt auf die Antwort vom Grenzmuseum in Sorge. Das Grenzmuseum selbst ist recht klein und gibt einen Überblick zum Grenzverlauf im Harz.
Up-date / November 2019: Die Freunde des Grenzmuseums in Sorge haben nun doch noch geantwortet. Anscheinend war die Bank-/Mülleiner-Komposition nur für eine Veranstaltung im August aufgebaut worden. Wie es das Schicksal wollte, war derjenige Mensch anschließend erkrankt und konnte das Ensemble nicht mehr wegräumen. Es soll nun zum Winter hin geschehen.
Später kreuzte ich die Schienen der Brocken-Eisenbahn und kam in das Gebiet der Harzer Bachtäler, einem Naturschutzgebiet, welches sich entlang der ehemaligen Zonengrenze zieht. Sehr idyllisch, wieder naturbelassen und nur durch geringe Eingriffe des Menschen beeinträchtigt. Trotzdem wird hier die tödliche Tragik des „antifaschistischen Schutzwalls“ sichtbar, weil in den 60er Jahren zwei junge Menschen beim Fluchtversuch erschossen wurden. Heute erinnern Tafeln an die beiden jungen Männer.
Brockenaufstieg
Das erste größere Zwischenziel erreichte ich bei der Talstation des Wurmberg-Sesselliftes. Skipisten und -lifte im Sommer sehen häufig brutal in den Hang gestampft aus – so auch hier, wenn eben gerade nicht der Schnee die braun-steinigen Hänge gnädig überdeckt. Schnell weiter, allerdings auf einer steil ansteigenden Passage des Kolonnenwegs. Es ging sehr rasant bis auf 800m über NHN hinauf. Ich folgte einem Wegehinweis zum „Dreckigen Pfahl“, weil dort der endgültige Abzweig Brockengipfel erfolgt. In meine schlaue Kladde hatte ich mir die Frage notiert, warum diese Landmarke „dreckiger Pfahl“ hieße. Ich gebe euch die Auflösung schon jetzt. Dieser Punkt heißt in Wahrheit: „DREIeckiger Pfahl“, 1) wegen seiner dreieckigen Form und 2) weil er drei Gemarkungen von einander abgegrenzt. Es ist ulkig, was das Gehirn (oder war es die dünne Höhenluft) mit der Wahrnehmung von Begriffen anstellen kann. Ob dreckig oder dreieckig, ich wurde mit einem sehr motivierenden Entfernungshinweis belohnt: Nur noch 4,3Km bis zum Gipfel. Der erste Kilometer bis zur Ausweichstelle der Brocken-Eisenbahn war jedoch unter aller Kanone, für MTB-Fahrer ohne Gepäck sicher eine geile, aufregende Strecke. Für mich hingegen eine nervige Qual, weil ausgewaschene Fahrrinnen mit Mordssteinen bei einer 10%-gen Steigung mit schweren Packtaschen kein Vergnügen sind – basta!
Das ist ja der Gipfel
Danach begann der Genuss-Abschnitt, der einen innerhalb von 15 Minuten auf den Brockengipfel führt. Eine lange Strecke begleitet nebenan die Brocken-Eisenbahn, die sich aus fotografischen Gründen sogar zweimal hatte blicken lassen – das war also sehr gutes timing. Als ich oben ankam, war es wie auf der Domplatte in Köln: so viele Menschen, ganze Schulklassen, Kegel-Ausflügler, wer und was auch immer. Der Reiz, den Brocken erreicht zu haben, war schnell verflogen. Der böige, kühle Wind und das trubelige Treiben führten dazu, dass ich mich rasch für die Abfahrt entschied.
Nun wollte ich besonders schlau sein, denn ich hatte keine Lust mehr auf Monotrails und holprige Waldwege (Radfreund Heinrich Pingel war mir eine Warnung, er schreibt in seinen Reiseerinnerungen folgendes: „Aus dem Esser-Buch weiß ich, dass das Ecker-Tal und die Talsperre sehr schön sein gelegen sein sollen. Hätte ich es mal bloß gelassen und wäre mit einem kleinen Umweg über Waldwege nach Ilsenburg gefahren, nein ich wollte die Mountainbikestrecke nehmen! Der erste Kilometer ging noch relativ problemlos, dann aber auf ca. 1 km nur noch eine Wurzel nach der anderen. [Endlich die Talsperre] Die Talsperre kann ich auf der Mauer überqueren. Am Ende der Mauer dann das Erwachen. Das ganze Gepäck vom Rad runter, die Treppen hochtragen, das Fahrrad hinterher und oben alles wieder zusammenbauen. 32 Grad Celsius. Ein Uhr mittags. Anstatt nach Bad Harzburg zu fahren, suche ich mir wieder die „harte“ Tour raus. Über einen kleinen, steilen Weg runter ins Eckertal. Über Steine, leichtes Geröll, aber immer im Schatten und einen schönen Blick auf die Ecker, die allerdings nur wenig Wasser führt. Ich fahre mittlerweile relativ brutal über die Schotterwege, so mit 18-20 km/h, aber es geht ja auch leicht bergab… Irgendwann merke ich, dass es mich wieder erwischt hat, die Luft scheint vorne nicht mehr zu halten.“)
Deshalb habe ich die Fahrstraße nach Schierke und Elend genommen, um via Braunlage nach Bad Harzburg und schließlich bis Goslar zu kommen. Der Weg über diese Fahrstraße bringt einen nicht nur zum Erstaunen, sondern abwechselnd schwanken die Gefühle zwischen Fassungslosigkeit und Empörung. Warum? Auf dem Hinweg habe ich wenig tote oder kaputte Bäume gesehen, ich bin überwiegend durch einen Mischwald gefahren, der für mich als Laien noch in Ordnung schien. Auf dem Rückweg windet sich der Weg jedoch durch riesige Gebiete mit toten, verdorrten und/oder entwurzelten Bäumen. Dies erstreckte sich über Bergrücken und Abhänge, wo kein einziger Baum gesund war.
Der tote Wald als – langes – Durchgangsstadium
Bei den Rangern des Nationalparks in Schierke bekam ich die Erklärung geliefert: Das muss so sein. Ich will das ausführen. Auf den Höhen des Harzes waren seit jeher Fichten die Grundlage der Forstwirtschaft, u.a. für den Bergbau in Goslar, wo viel Holz benötigt wird. Fichten wachsen schnell nach und bieten eine kostengünstige Produktion für diesen nachwachsenden „Rohstoff“. Wenn die Fichten jedoch – wie im Harz und auch in anderen Mittelgebirgen – als einziger Baumart gepflanzt werden, sind solche Plantagen für Krankheiten und anderen Unbill äußerst anfällig. Im Nationalpark nimmt man also in Kauf, dass große Gebiete absterben, um bei der Wieder-Aufforstung die Fehler aus der Vergangenheit zu vermeiden. Man kann in diesem fortgeschrittenen Stadium auch nicht viel gegen die Borkenkäfer-Plage unternehmen. Anschließend kommen neue Baumarten wie Lärche oder Birke in den Boden. Dieser neue Mischwald soll in 50 Jahren deutlich widerstandsfähiger als die heutigen Monokulturen sein.
Ein cleverer Plan, der einen sehr langen Atem erfordert. Und bei den privaten Waldbesitzern nicht immer, nicht überall auf Gegenliebe stößt. Da die große Schlacht gegen den Borkenkäfer anderweitig nicht gewonnen werden kann, muss man noch für lange Zeit durch diese albtraumartige Gegend laufen. Es kann einen gruseln, auch wenn der Plan dahinter vermutlich gut ist und die Fehler der letzten Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte überwindet. Solche Borkenkäfer-Plagen gab es immer wieder in der Vergangenheit und waren meistens die Folge von einer übergroßen Zahl an bereits geschädigten Bäumen. Heute schaukeln sich mehrere fatale Trends dabei auf: heiße Sommer, die Klimaerwärmung, geringe Niederschlagsmengen, heftige Stürme und schließlich auch noch der gefräßige Borkenkäfer (gut zu wissen: gesunde Bäume können diesen frechen Eindringling wesentlich besser vertragen und mit ihm fertig werden). Hier gibt es einen informativen Beitrag von Peter Wohlleben über den Zusammenhang zwischen „Borkenkäferplage“ und schlechtem Waldmanagement.
Mit meinem Weg über die Autostraße war klar, dass sich die Etappenstrecke „etwas“ verlängern würde, aber es war mir nicht klar, dass ich erst nach Braunlage ins Tal runter und dann wieder auf fast 850m über NHN hoch musste. Das war nach der Brockentour heftig, weil aus den überschaubaren 65Km auf einmal 90Km werden sollten. Die Strecke führte überdies auf der vielbefahrenen Bundesstraße B242/B4, so dass ich froh war, nach ungefähr zwei Stunden das Ortseingangsschild von Bad Harzburg am Straßenrand zu sehen. Goslar, als nächstes Etappenziel war noch ungefähr 12 Km entfernt, das sollte in jedem Fall drin sein. Doch auf einmal zeigten die Goslar-Schilder in die entgegengesetzte Richtung als die Komoot App. Daher denken machen – und sich dann für eine Variante entscheiden. Diese schien mir nach einem Kilometer so seltsam, dass ich lieber wieder den Hinweisschildern folgte. Und siehe da: auf einmal zeigte ein Schild zum Bahnhof in Bad Harzburg, nur einen Kilometer entfernt. Mein Gehirn hat sehr schnell vorgeschlagen: Nimm den Zug!
Dieser Eingebung folgend, musste ich zum Glück keine 15 Minuten auf den Zug warten, um nach weiteren 12 Minuten in Goslar auszusteigen. Uff, das war ein heftiger Tag mit vielen Eindrücken und sehr schönen, sehr einsamen Abschnitten, auch wenn der Sehnsuchtsberg mich nicht überzeugt hatte. Die kurze Zugfahrt hatte mich versöhnt und mir gleich die nächste Eingebung gebracht. Es gibt einen besseren Zug als nach „Nirgendwo“ – die Destination für den kommenden Tag hieß daher Wolfenbüttel.
Ich war genauso total schockiert, als ich die vielen toten Bäume sah – das ist wie in dem Film The Road, richtige Endzeitstimmung, Apokalypse. Wir – meine Freundinnen und ich – sind wohlgemut morgens von Ilsenburg auf den Brocken hoch. Wunderschön durch Laubwälder, an einem Wasserfall vorbei – truamhaft! Dann der Brocken, wie du schreibst, sehr viele Menschen, kein Gipfelfeeling, was ich aus den Alpen kenne. Und dann gings nach Schierke runter – das verdirbt einem die ganze Laune. Das ist doch nicht normal, dass unsere Wälder so kaputt sind. Unterwegs haben wir jemanden vom Nationalpark getroffen, der uns erzählte, dass das die nächsten Jahrzehnte so aussehen würde – kann ic hgar nicht glauben und finde ich nicht gut. Eigentlich fahre ich nicht Rad, aber der Titel des Beitrags verführte mich zum lesen. Die anderen Seiten habe ich mir nicht angeschaut – LG Mareike
Hi Mareike, mir ist bei dem Anblick dieser riesigen Ansammlung von kranken Bäumen auch Angst und Bange geworden. Ich denke, Wald- und Forstwirtschaft funktioniert nur in langen Zeiträumen. Vielleicht ist es ein Glück, dass der Nationalpark nicht wirtschatlich denken muss, sondern man hier der Natur ihren Lauf läßt. Ich habe mir von den Rangern erzählen lassen, dass hier ein Unterschied zu den privaten Waldbesitzern liegt: die hauen die Bäume ab und pflanzen möglicherweise den selben Mix aus anfälligen und schnell wachsenden Bäumen erneut an. Aus unserer Sicht sehen diese Abhänge und Bergrücken jedoch sehr scheußlich aus und machen wenig Laune (wie du auch schreibst). Da sollte vor allem noch ein wenig mehr erklärt werden, weil meine erste Reaktion auch nur „Ohje“ war. Alles Gute und danke für deinen Kommentar Stefan