Highlight:
- Point Alpha
Der Unfall kurz vor Fladungen war – wie alle Unfälle – im Grunde überflüssig, aber sie lassen sich nie ganz vermeiden. Der schnelle Arztbesuch in Fladungen hatte zumindest die schlimmsten Folgen abgemildert, außerdem war das Gewitter beinahe vorbeigezogen, so dass ich einigermaßen gut versorgt die letzten Kilometer nach Birx fahren konnte.
Ein Land – (mindestens) zwei Meinungen
Die Pension Dreiländereck liegt unweit vom Grünen Band und wird gerne von Wanderern, Radfahrern und Geschichtsinteressierten angesteuert. Herr Graf, der Gastwirt, hat sich die letzten dreißig Jahre intensiv mit der deutschen Teilung und den Folgen des Mauerfalls beschäftigt. Er bietet darüber hinaus Grenzwanderungen an und lädt Gruppen gerne in einem ehemaligen Beobachtungs-/Grenzturm ein, den er vor einiger Zeit gekauft hat und auf eigene Kosten erhalten möchte. Seine kleines Museum mit Uniformen und anderen Militaria vorzugsweise aus dem 1. Weltkrieg nennt er auch ein „Antimilitaristisches Museum“. Er sieht den Prozess der „Übernahme der DDR“ durch die westdeutschen Konzerne und der Politik sehr kritisch, weil er zu schnell, zu radikal und mit zu vielen Opfern verbunden war. Auf der anderen Seite ist er seit vielen Jahren für die FDP aktiv und kandidierte für verschiedene Posten. Er ist für mich ein „gutes“ Beispiel für einen Bundesbürger mit DDR-Wurzeln, der mit der Art des Welt-Erklärens durch die Wessis nicht einverstanden ist. Er weist in unserem Gespräch auch auf ein, aus seiner Sicht fundamentales Missverständnis bei den Grünen hin. Sie seien eine urbane Partei, die die Bedürfnisse und Herausforderungen des ländlichen Raumes nicht verstehen würden. So stünden Landschafts- und Naturschutz zwar oben an, was jedoch am Beispiel von Birx die weitere Ortsentwicklung verhindere, da wegen des Landschaftsschutzes keine weiteren Baugebiete ausgewiesen werden könnten. Ich teile seine Meinung, dass das Label „Verbotspartei“ nicht von ungefähr kommt. Dieses Thema ist hyper-aktuell, wo wie selten zuvor über den richtigen Weg zum besseren Klimaschutz gestritten wird: regelt es alleine der Preis, wie sieht es mit Verboten aus, ist das nicht alles übertrieben, weil Deutschland nur einen Mini-Anteil an der weltweiten Verschmutzung hat, was haben wir hier in Birx damit zu tun? Einfache Fragen mit teilweise schwierigen Antworten.
Das Alternativprogramm war meine abendliche Unterhaltung mit Ulrike, einer Familienanwältin aus Leipzig, die eine zünftige Wanderung von Bad Kissingen nach Bad Salzungen unternahm. Wir aßen gemeinsam zu Abend, eine leckere Soljanka, von Frau Graf selbst zubereitet. Sie hatte die Umbruchsituation 1989 als Leipziger Abiturientin erlebt, stand nicht in der ersten Reihe der Protestler, sondern war zum Arbeitseinsatz ins Umland verdonnert worden. Bis dahin war sie nach eigener Darstellung nicht sehr politisch, freche Schnauze zwar, aber immer ein Gespür, wie weit sie gehen konnte. Die verschiedenen Anläufe, einen Studienplatz zu bekommen, hörten sich teilweise ulkig an: Physik sei nichts für sie als Mädchen, da Frauen im Atomkraftwerk nur fegen würden. Die Journalistenkarriere ging schnell zu Ende, als sie beim Aufnahmegespräch gefragt wurde, was das Wichtigste für eine Journalistin sei. Ihre zackige Antwort: das Gewissen. Danke, junge Dame, damit kam sie recht zügig wieder nach Hause. Am Ende wurde es das Jura-Studium und dann war es auch schon 1990. Sie findet die These, dass die Konformität der DDR-Gesellschaft und die geringere Bereitschaft, Regeln infrage zu stellen, auch zur Stärke der AfD in den östlichen Bundesländern heute geführt haben. Diese Partei sei das Sinnbild für „Law&Order“ mit einfachen Antworten auf komplizierte Themen. Spannend wird der morgige Wahltag in Sachsen und Brandenburg sowie später im Jahr in Thüringen. Insofern waren der Abend und Morgen voll gepackt mit interessanten Gesprächen über Politik und persönliche Biographien, die in dieser Gegend häufig eng mit den politischen Veränderungen nach 1989 verwoben sind.
Manchmal sind Boxen-Stopps unerlässlich
Nach der bereits erwähnten, fürchterlichen Nacht entschied ich mich am Abreisetag aus Birx für zwei „Boxen-Stopps“ in Hilders, was eine etwas größere Ortschaft gleich zu Beginn meiner nächsten Etappe war. Nach wenigen Kilometern durchs Ulstertal kam ich als erstes bei Dr. Kümpel (leider keine eigene Web-Seite) an, um noch einmal nach der Wunde sehen und fachmännisch neu verbinden zu lassen. Wieder war ich positiv überrascht, dass ich nicht lange warten musste und der Doktor mich sympathisch und natürlich auch kompetent versorgte. Es stellte sich raus, dass er kürzlich auch zum E-Bike Fan geworden ist.
Rhön-Bike
Den zweiten Stopp legte ich bei Rhön-Bike ebenfalls in Hilders ein. Der Chef persönlich, Herr Spiegel, „verarztete“ meine Bremsen – nach nur wenigen hundert Kilometern war der zweite Beläge-Satz fällig. Anscheinend haben die Abfahrten im Thüringer Wald den Bremsen so zugesetzt, dass sie dringend erneuert werden mussten. Inzwischen habe ich sogar Bremsbeläge mit Kühlrippen – nur ein Marketinggag? Keine Ahnung, in jedem Fall waren sie etwas teurer als die normalen Beläge (und halten immer noch…).
Point Alpha
Dieser ungeplante Aufenthalt in Hilders dauerte glücklicherweise nicht allzu lang. Ich freute mich, um 11 Uhr dann endlich los zu kommen. Auch wenn Sünna auf dem Keltenhügel mein abendliches Ziel war, kommt man auf dieser Etappe am Point Alpha nicht vorbei: es ist einfach ein Muss-Besichtigungspunkt. Ich radelte zunächst sehr entspannt bis Geisa, um dann nur mal „kurz“ auf einen 411m hohen Bergrücken zu hecheln. Dort befinden sich die Point Alpha Gedenkstätte und der ehemalige US Army Stützpunkt. Das amerikanische Camp wurde schon kurz nach dem Krieg gebaut und diente als einer der wichtigsten Posten, um Truppenbewegungen des Warschauer Paktes rechtzeitig zu bemerken. Die westlichen Kriegsszenarien gingen u.a. davon aus, dass aufgrund der geographischen Gegebenheiten das Fulda Gap, eine breite Senke ohne natürliche Hindernisse für einen gegnerischen Panzerüberfall ideal sei. Wie wir wissen, hat das – zum Glück – nie stattgefunden. Darum haben -zig Besatzungen auf westlicher wie östlicher Seite ihre Lebenszeit damit vertan, sich gegenseitig zu belauern – vermutlich immer mit einem Finger auf dem „roten Knopf“. Beeindruckend ist im amerikanischen Camp jedoch die echte „rote Linie“, die nicht überfahren werden durfte – zumindest mit Panzern und ähnlichen Gefährten. Das hätte von unseren Brüdern in Osten als kriegerischer, aggressiver Akt aufgefasst werden können – und dann siehe oben: roter Knopf. Ich werde recherchieren (oder mein Back-Office bitten), ob die berühmten „roten Linien“ daher stammen.
Die Ausstellung im Camp ist sehr spannend, da lebendig und authentisch gemacht. Man hat fast den Eindruck, dass die Amerikaner erst vor wenigen Tagen den Stützpunkt aufgegeben hätten. Die „deutsche“ Gedenkstätte musste aus Zeitgründen ausfallen, aber ich habe mir vorgenommen, diese strategisch wichtigen Punkte in einem zweiten Anlauf mit mehr Muße abzufahren.
Wir sind das Volk
Auf der Grenzlinie gibt es auch noch die obligatorische Kunst mit politischer Aussage. Eine große Holzinstallation stellt das geteilte Land dar und ist mit zwei bekannten Aussagen verziert: „Es wächst zusammen, was zusammengehört“ (W. Brandt, 1989) und „Wir sind ein Volk“ (aus Leipzig, Berlin und anderswo, 1989). Man kann den Willy dafür gar nicht kritisieren, denn er hatte zumindest in der Kurzform ja nichts zur Länge dieses Prozesses gesagt. Das zweite Zitat hieß zu Beginn der Montagsdemonstrationen in der DDR noch anders: „Wir sind das Volk“ – dies hat eine völlig andere Konnotation als „Wir sind ein Volk“. Abgesehen davon, dass die Pegida-Aktivisten sich seit drei Jahren mit diesem Spruch erdreisten, mich ungewollt zu umarmen. Es ist eine Minderheit, die nicht für „das Volk“ spricht und wir alle sollten mehr dafür tun, dass es so bleibt!
Jetzt sind es noch gute 15 Km bis Sünna. Mir hatte jedoch niemand gesagt, dass es von der Ulster die letzten 2 ½ Km auch wieder kräftig hinauf ging – das war ein sehr nettes Vergnügen bei knapp 30 Grad. Dafür war der Empfang im Keltenhotel Goldene Aue umso herzlicher und ich konnte mich super ausruhen, meinen Arm versorgen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Fast, denn am Abend musste ich nachsitzen. Über das Hotel findet ihr hier weitere Infos.
Nach einer Rindsroulade auf thüringische Art inkl. Knödel und Rotkraut konnte ich das auf der einen Seite besser, auf der anderen schaute ich sehnsüchtig nach dem Bett. Um mit dem Blog nicht ganz ins Hintertreffen zu geraten, wollte ich die verlorene Zeit nach dem Super-Gau aufholen. Darum nahm ich den Nachtisch mit aufs Zimmer und klapperte nebenbei auf meinem Tablet herum. Allerdings: das eine oder andere für sich genommen wäre immer gesünder.
Ein Begriff „Rote Linie“ und auch mindestens zwei Meinungen. Das hat dein „Backoffice“ bei einer ersten kurzen Recherche im Netz entdeckt. Bleibe dran.
Da ich die letzten Tage bei meinem Besuch bei dir ja auch als Hilfskrankenschwester fungiert habe 😉 🙂 kann ich nur sagen: Glück im Unglück gehabt, haste da. Für empfindliche Gemüter sicher gut, dass dein Arm nur MIT Verband zu sehen ist.
Hmmm, ob es auch für die Geschwindigkeit bei Abfahrten mit dem Rad auf heftigen Wegen so was wie eine rote Linie gibt?🤔
Dann bin ich sehr gespannt auf die Erklärungen zur Roten Linie – und wir wollen empfindliche Seelen nicht unnötig mit blutigen Bildern schockieren 😉
Ich muss wirklich feststellen: „Hat Off“ oder auch „Chapeau“, wie wir auf gut ausländisch sagen.
Tolle Fahrt, toller Text, tolle Fotos. Kurz: ein gelungenes Werk, das seinen wohlverdienten Platz im „Almanach des Besonderen im beginnenden 21. Jahrhundert“ mit Sicherheit finden wird, ganz einfach: Weil es Spitze ist.
Habe ich solche Komplimente bestellt? Nein – darum freue ich mich besonders – danke!